Gesellschaft

Zwar setzt sich im heutigen Kasachstan ganz allmählich wieder die kasachische Sprache und Kultur durch, doch hat Russisch nach wie vor große Bedeutung. Die vielen Nationalitäten leben friedlich zusammen. Zwischen den sozialen Schichten, Generationen, Stadt und Land, Nord und Süd bestehen große Unterschiede.

Anteil alphabetesierte Erwachsene 99,8%

Bedeutende Religionen

sunnitischer Islam (70%); russisch orthodox (26%)

Städtische Bevölkerung 58,2% (2019)

Lebenserwartung (m/w)

66,2 / 76,3 Jahre, (2018, geschätzt)

Gender Inequality Index 58 (von 189), 2018

Anzahl der Geburten

2,2 / Frau, (2018, geschätzt)

Kindersterblichkeit

19 / 1.000 Lebendgeburten, (2018, geschätzt)

Vielvölkerstaat Kasachstan

Kasachstan ist nicht nur das neuntgrößte Land der Erde, sondern auf seinem Territorium leben auch Angehörige von 120 Nationalitäten. Entsprechend groß ist die Vielfalt der Sprachen, Religionen, Traditionen und Kulturen – auch wenn früher das „Sowjetische“ unübersehbar war und heute zunehmend das „Kasachische“ im Vordergrund steht. Dazu kommt, dass sich Lebensverhältnisse und Bevölkerungszusammensetzung in einzelnen Teilen des Landes unterscheiden, natürlich auch zwischen Stadt und Land und den Generationen, daher können die folgenden Informationen nur eine grobe Vorstellung von DER Gesellschaft und Kultur Kasachstans geben. In Anlehnung an die offizielle Verwendung in Kasachstan ist hier von Kasachstanern die Rede, wenn alle Staatsbürger Kasachstans, gleich welcher Nationalität, gemeint sind, von Kasachen, wenn die dem Staat den Namen gebenden Kasachen im Fokus stehen.

Die ethnische Vielfalt ist historisch relativ neu. Die Steppe war ursprünglich nur von den nomadisierenden Kasachen bewohnt. Ab der 2. Hälfte des 19. Jh. wanderten zunächst Land suchende russische Bauern ein, in der Sowjetzeit kamen Russen u.a. Nationalitäten des Sowjetreiches als Industriearbeiter in die Kasachische SSR. Durch die Deportation ganzer Völker, darunter auch der Wolga-Deutschen, von Koreanern und Tschetschenen unter Stalin wurde die nationale Zusammensetzung nochmals verändert. Die verschiedenen Ethnien waren und sind regional und sozial unterschiedlich verteilt: Russen und Ukrainer leben überwiegend im Norden des Landes und in den (Industrie)Städten, Kasachen und Angehörige anderer zentralasiatischer Nationalitäten stärker im Süden und auf dem Land, einige kleinere Volksgruppen lokal konzentriert. Turksprachige muslimische Ujghuren und chinesischsprachige muslimische Dunganen haben ihren historischen Siedlungsschwerpunkt im zur VR China gehörenden Xinjiang, größere Gruppen leben aber schon seit langem auf dem Territorium Kasachstans. Die chinesische Politik gegenüber Muslimen in Xinjiang sorgt derzeit für Unruhe unter Ujghuren und Kasachen in Kasachstan und setzt eine Auswanderungswelle von in China lebenden Kasachen nach Kasachstan in Gang.

Nach der Unabhängigkeit hat es eine starke Emigration vieler nichtkasachischer Nationalitäten (Russen, Deutsche, Polen u.v.a.) gegeben, gleichzeitig kehrten Kasachen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, der Mongolei und China in ihre «historische Heimat» zurück, (wo sie sich allerdings oft nicht Willkommen geheißen fühlen). Beides zusammen hat zu einer starken Verschiebung der Bevölkerungszusammensetzung geführt: 1989 stellten die Kasachen 40% der Bevölkerung, die Russen 38%. 2018 waren es 66,5% Kasachen, 20,6% Russen. Die Russen leben überwiegend in den Städten und vor allem im an Sibirien grenzenden Norden des Landes. Durch die Ereignisse in der Ukraine reagiert das offizielle Kasachstan derzeit sehr nervös auf vereinzelte Forderungen nach Autonomie oder Anschluss an Russland. Offenbar ausgelöst durch die aktuelle Wirtschaftskrise und verstärkt durch die Sprachpolitik war ab 2015 eine neue Ausreisewelle von Russen zu beobachten – mit schwierigen Folgen für die Wirtschaft des Landes. Äußerungen Präsident Tokajews im Juni 2020 deuten auf eine neue staatlichen Positionierung gegenüber den Russen hin. Von der Existenz der Deutschen, die 1989 mit knapp 9,6 Mio. Menschen die drittgrößte Nationalitätengruppe Kasachstans gebildet hatten, zeugen heute vielfach nur noch Ortsnamen und Erinnerungen, da sie inzwischen bis auf eine Gruppe von ca. 180.000 Personen nach Deutschland ausgesiedelt sind.

Das Zusammenleben war seit der Unabhängigkeit nicht problemfrei, aber abgesehen von vereinzelt auftretenden kleinen, lokal begrenzten Auseinandersetzungen friedlich. Allerdings scheint die Zahl und Gewalttätigkeit derartiger Konflikte nach Ansicht einiger Beobachter zuzunehmen. Ein Alltagskonflikt zwischen Dunganen und Kasachen führte allerdings im Februar 2020 zu so heftigen Gewalttätigkeiten, das zehn Menschen starben, Häuser abbrannten und ihre Bewohner flüchteten. Im Sommer 2020 wurde erneut von zwischenethnischen Gewalttätigkeiten, dieses Mal zwischen Kasachen und Usbeken, berichtet.

Nicht nur in der Verfassung, sondern auch in der Realität genossen die Nationalitäten Schutz; Eintracht zwischen den Nationalitäten war ausdrückliches Politikziel. In den letzten Jahren lässt sich aber deutlich eine Kasachisierungstendenz erkennen. Kasachstan wird zunehmend nicht mehr als „gemeinsames Haus“, sondern als Haus der Kasachen betrachtet. Da Präsident Nasarbajew sich als Garant des friedlichen Zusammenlebens der Nationalitäten generiert hat, war der Gedanke an einen Wechsel an der Spitze des Staates bei vielen nichtkasachischen Bürgern des Landes Angst besetzt. Derzeit reden die einen von wachsendem kasachischen Nationalismus, während andere Experten nicht interethnische Spaltungen als das Hauptproblem ansehen, sondern regionale und soziale Unterschiede innerhalb der kasachischen Bevölkerungsgruppe.

Sprachen und Sprachpolitik

Russisch war in der Kasachischen SSR lingua franca; auch viele vor allem städtische Kasachen  konnten kein Kasachisch mehr. Nach der Unabhängigkeit wurde Kasachisch in der Verfassung zur Staatssprache erhoben, Russisch erhielt aber eine herausgehobene Sonderrolle als Sprache der interethnischen Kommunikation. Der junge Staat schrieb sich von Anfang an die Förderung der kasachischen Sprache auf die Fahnen, in den ersten ca. 15 Jahren allerdings eher pro forma und mit wenig Erfolg, sprach doch ein großer Teil der Elite des Landes auch kein Kasachisch. In den letzten Jahren kann man aber auch in Großstädten wie Almaty immer mehr Kasachisch hören; die Kenntnis der Staatssprache ist Voraussetzung für eine Stelle im Staatsdienst. Die Forderungen der Verfechter der kasachischen Sprache werden immer lauter. Seit Jahresbeginn 2016 sind russische Kabelanbieter im kasachstanischen Netz nicht mehr zugelassen, was die russische Sprache noch mehr verdrängen wird; auch im Kino sollte Kasachisch häufiger zu hören sein. Die Bestimmungen hatten aber so wenig Wirkung, dass Ende 2018 als Kompromis kasachische Untertitel vorgeschlagen wurden. 

Im Frühjahr 2017 sorgte eine Anordnung des Präsidenten zur Entwicklung einer lateinischen Schreibweise für das bislang mit kyrillischen Buchstaben geschriebene Kasachisch für neue Diskussionen über eine Verdrängung der russischen Sprache, wie auch über den Nutzen der kostspieligen Umstellung als solches. Der von Wissenschaftlern erarbeitete Vorschlag für eine Schreibung in lateinischen Buchstaben wurde noch viel heftiger diskutiert. Die Debatten fanden am 19.2.2018 ein unerwartetes Ende mit einem Dekret des Präsidenten über die Einführung einer veränderten = vereinfachten Schreibweise. Im Sommer 2020 soll der Termin der Umstellung nach hinten verschoben worden sein. Von Seiten Nasarbajews wurde gleichzeitig die Kenntnis der englischen Sprache stark propagiert.

Soziale Situation

Sowohl der HDI als auch der Augenschein zeugen davon, dass zumindest ein Teil des (Erdöl)reichtums die Bevölkerung erreicht hat. In den Großstädten hat sich eine Mittelschicht etabliert, doch schon Ereignisse wie die Immobilienkrise 2008 haben gezeigt, wie schnell Existenzen bedroht sind. Die verbreitete Rechtsunsicherheit tut ihr Übriges. Vor allem entwickelt sich das Gap zwischen einer sehr reichen Elite, die auch international von sich reden macht, und der Normalbevölkerung immer mehr auseinander. Auch die Unterschiede zwischen Dörfern, verschiedenen Provinzstädten und den beiden Hauptstädten wachsen. Und ausgerechnet im Erdöl reichen Westen Kasachstans ist die soziale Lage besonders angespannt. Die  Reallöhne sinken seit mehreren Jahren. Sowohl Unzufriedenheit mit der eigenen sozialen Lage als auch mit von der Regierung geplanten Reformen wirkte lange Zeit aber nur auf sehr wenige Menschen aktivierend. Anfang Februar 2014 hat die Freigabe des Tenge-Kurses, die letztlich zu einer Geldentwertung von 19% geführt hat, Proteste – und ein Durchgreifen der Sicherheitskräfte – provoziert. Die Wirtschaftskrise und die damit verbundene Entwertung des Tenge verschärften die sozioökonomische Lage großer Teile der Bevölkerung. Die Realeinkommen sinken seit 2014 (im 1. Halbjahr 2017 um 3,4%). Zuerst trugen nur verzweifelte Hypothekenschuldner ihren Protest auf die Straße, doch kann man die Demonstrationen gegen das Projekt eines neuen Landgesetzes im Frühjahr 2016 – die bislang größten im unabhängigen Kasachstan – als Zeichen interpretieren, dass die Geduld vieler Kasachstaner nicht unendlich ist. Anfang 2019 war das Entsetzen über den Feuertod von fünf Kindern, die nachts unbeaufsichtigt zuhause waren, während ihre im Niedriglohnsektor beschäftigen Eltern arbeiten mussten, Symbol für wachsende soziale Probleme und Anlass für diverse Kundgebungen, die die Regierung zu einem Paket von sozialen Verbesserungen veranlassten – das die Betroffenen allerdings nicht zufriedenstellte.

Der Anteil der nach internationaler Definition Armen erscheint mit weniger als 2% zwar gering, doch erfordert das Überleben in so teuren Städten wie Almaty und Nur-Sultan weit mehr als 2 US-Dollar pro Tag. Besonders betroffen sind häufig Rentner, daneben Arbeitslose und ländliche Zuwanderer. Auch eine große Gruppe privater Kreditnehmer befindet sich immer wieder in einer ausweglosen Lage. Im Juni 2013 wurde nach kontroversen Diskussionen eine Reform des Rentensystems beschlossen, deren wichtigste Neuerungen die Anhebung des Rentenalters der Frauen von 58 auf 63 Jahre und die Einführung eines einigen Rentenfonds sind. Die Verwaltung des Fonds ist nicht unumstritten. Neue Gesetze zwingen nun in Zeiten der Wirtschaftskrise ältere Menschen aber geradezu, ihre Arbeitsplätze aufzugeben. Die Durchschnittsrente soll 2018 bei ca. 183 US-Dollar im Monat gelegen haben. (Das durchschnittliche Monatseinkommen lag 2018 bei ca. 440 US-Dollar, wobei die Unterschiede zwischen den Branchen und Orten sehr groß sind. Das Mindesteinlommen wurde am 1.1.2019 um 50% auf 111 US-Dollar erhöht.) Die Arbeitslosenquote wird offiziell seit Jahren nahezu unverändert mit rund 5% angegeben, inoffizielle Zahlen nennen mehr als 10%. Gewerkschaften als unabhängige Vertreter  von Interessen der Arbeitnehmer gibt es nicht, «freie» Gewerkschaften werden vom Staat nicht toleriert, die offiziellen Gewerkschaften gelten als staatlich gelenkt. Gegen das neue, die Rechte der Arbeiter verschlechternde Arbeitsgesetz gab es keinen hörbaren Widerspruch, obwohl Menschenrechtler die Situation der Arbeiter äußert negativ bewerten. Doch kommt es im erdölreichen Westen des Landes vermehrt zu von der Regierung kriminalisierten Ausständen, die vergeblich unabhängige Interessensvertretungen fordern. An den Erdölförderstandorten ist auch die sehr unterschiedliche Bezahlung ausländischer Facharbeiter und kasachstanischen Personals ein Dauerkonfliktthema.

Prekär ist auch die Lage der Zuwanderer, sowohl der kasachischen, die auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen vom Land in die Städte kommen und dort auf Wohnungsprobleme stoßen und nur wenig Geld mit wenig qualifizierten Tätigkeiten verdienen, als auch der Arbeitsmigranten aus den benachbarten zentralasiatischen Republiken, deren Status und soziale Lage trotz juristischer Verbesserungen nach wie vor problematisch ist. Arbeiter aus der VR China sind dagegen weniger sozial benachteiligt, als der sinophoben Stimmung im Land ausgesetzt.

Trotz mancher Verbesserungen ist auch die Situation von Menschen, insbesondere Kindern, mit Einschränkungen nach wie vor schwierig.

Dr. Beate Eschment als Urheberin beschäftigt sich seit Anfang der 90er Jahre mit Zentralasien. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am  Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS). Die GIZ wurde informiert, dass wir auf touristischen Webseiten die Inhalte vom ehemaligen Länderportal übernehmen. Wir freuen uns über Anregungen und Bildmaterial.